C. Die fakultative Natur der Art. 9 und 11 der Richtlinie
2004/35/EG und die Reziprozitätsregel.
Da die strikte Geltung des Verhinderungsverbots und der
Durchbrechungsregel die Verabschiedung der Richtlinie hätte scheitern
lassen, erlaubt es Art. 12 den Mitgliedsstaaten, ihren Gesellschaften nicht
vorzuschreiben, Art. 9 Abs. 2 und 3 und/oder Art. 11 anzuwenden. Nach Art. 12
Abs. 1 Unterabs. 1 muss allerdings ein Mitgliedstaat, der von dem Recht aus
Art. 12 Abs. 1 Gebrauch macht, seinen Gesellschaften die widerrufliche
Wahlmöglichkeit einräumen, die genannten Vorschriften dennoch zur
Anwendung zu bringen. Die Entscheidung der Gesellschaft wird von der
Hauptversammlung im Einklang mit den Vorschriften über die Änderung
der Satzung getroffen und ist der nationalen zuständigen Aufsichtstellen
mitzuteilen. Die Entscheidung über die Geltung des Verhinderungsverbots
und der Durchbrechungsregel obliegt somit den Aktionären. Frankreich und
Deutschland haben diese Bestimmungen unterschiedlich umgesetzt: Während
Frankreich die Umsetzung der Art. 9 und 11 vorgenommen hat, hat Deutschland von
dem Wahlrecht des Art. 12 Gebrauch gemacht und somit diese Bestimmungen nur als
fakultative Regeln umgesetzt. Jedoch hat der deutsche Gesetzgeber der
Hauptversammlung der deutschen Gesellschaften die Möglichkeit gegeben, das
Verhinderungsverbot und die Durchbrechungsregel in ihrer Satzung vorzusehen
(§§ 33a, 33b WpÜG).
Hinzu kommt die Reziprozitätsregel des Art. 12 Abs. 3,
wonach die Mitgliedstaaten Gesellschaften, die das Verhinderungsverbot und/oder
die Durchbrechungsregel anwenden, von der Geltung dieser Grundsätze
befreien können, wenn die Gesellschaft Ziel eines Übernahmeangebots
geworden ist und der Bieter oder die den Bieter kontrollierende Gesellschaft
die jeweiligen Grundsätze selbst nicht anwendet.
§ 3 - Der Ausschluss von Minderheitsaktionären
und das Andienungsrecht.
Nach Art. 15 Abs. 1 und 16 Abs. 1 der Richtlinie haben die
Mitgliedstaaten sicherzustellen, dass im Anschluss an ein Vollangebot die
Möglichkeit des Squeeze- und Sellout besteht.
Während der Squeeze-out in einer Möglichkeit des
Ausschlusses von
Minderheitsaktionären besteht, ist der Sell-out
eine Möglichkeit des Minderheitsaktionärs, den Mehrheitsaktionär
zu zwingen, seine Aktien zu erwerben. Die beiden Rechte unterliegen denselben
Voraussetzungen: Zunächst muss der Bieter ein an alle Aktionäre der
Zielgesellschaft gerichtetes Angebot für sämtliche Wertpapiere
abgegeben haben. Dann muss der Bieter infolge des Angebots einen bestimmten
Schwellenwert überschritten haben. Dieser entspricht 90 % oder 95 % des
stimmberechtigten Kapitals der Zielgesellschaft und der Stimmrechte. Die
Ausübung des Ausschluss- oder Andienungsrechts muss nach Art. 15 Abs. 4,
Art. 16 Abs. 3 innerhalb von drei Monaten nach Ablauf der Annahmefrist
erfolgen.
Eine angemessene Barabfindung muss den ausgeschlossenen oder
ausgetretenen Aktionären gewährleistet werden. Hinsichtlich der
Höhe dieser Abfindung unterscheiden Art. 15 Abs. 5 Unterabs. 2 und 3, Art.
16 Abs. 3 zwischen freiwilligen Angeboten und Pflichtangeboten. Beim
Pflichtangebot gilt die Gegenleistung des Angebots als angemessen. Es wird also
auf die Regel des Art. 5 Abs. 4 abgestellt. Bei einem freiwilligen Angebot gilt
die im Angebot vorgeschlagene Abfindung nur dann als angemessen, wenn der
Bieter durch die Annahme des Angebots Wertpapiere erworben hat, die mindestens
90 % des vom Angebot betroffenen stimmberechtigten Kapitals entsprechen.
Greifen diese Vermutungen nicht ein, so ist die angemessene Abfindung nach
Maßgabe der nationalen Regelungen zu ermitteln.
|